“Ein Schritt nur wohin?”
Aus dem Stück “Kalte Stadt” von der Collage “Kalte Stadt”
Wahrscheinlich war es einfach nur ein sehr schöner Zufall, ganz oben im elften Stock eines der höchsten Häuser der Stadt sein Kinderzimmer zu haben. Hier, umgeben von neun weiteren Häusern dieses Typs, war die Welt draußen weit entfernt. Vom Hof her vermischten sich die Stimmen der unzähligen spielenden, streitenden, weinenden und fremden Kinder zu einem ewig selben, unheilvollen Monster. Aber gleichzeitig waren der schöne Himmel, seine wunderbaren Wolken und die über alles wachende Sonne sanfte Boten des Friedens und der Verheißung, des Entdeckens und der Zuversicht. Eine wirklich bizarre Mischung. Und nachts, wenn die Sterne glitzerten und Ruhe einzog auf dem Hof, dann öffnete ich das Fenster und schaute stundenlang hinaus. Ja, es war schön hier oben. Nicht viele meiner Freunde sahen aus ihren Zimmern den Himmel so nah.
Den Pioniergruß lernte ich schnell, doch schon das rote Halstuch wurde mir in der vierten Klasse verwehrt. Zu aufmüpfig erschien ich den Lehrern, weil ich mit Lustlosigkeit und dummen Fragen glänzte. Und meine republikfürchtigen Eltern verloren ihren Jungen mit der Sorge um seine Leistungen und ihre Reputation allmählich aus den Augen. Ein Schüler sollte ich sein, wieder ihr Junge wollte ich sein. Ein Teufelskreis der Enttäuschungen, wie ich heute verstehe. Gern hätte ich mit zehn Jahren jemanden erzählt, wie es mir geht.
Die Wende kam wie ein Paukenschlag nur wenige Monate nach unserem Schwur, ebenfalls gute republikfürchtige Erwachsene zu sein. Dieser Paukenschlag war so heftig, dass es die ganze kleine DDR erwischte. Viele Freunde, Lehrer und die ganze Arbeiterklasse waren plötzlich fort, irgendwo in der nun offenen Welt. Und während ich zwischen Jubel und Beklommenheit aus den Trümmern hinaussah, dämmerte es mir langsam: Ich würde meine Zukunft gar nicht mehr als Melker oder Traktorist verbringen müssen, sondern die große Welt könnte auch meine Welt sein.
Nach Schule, Ausbildung und Zivildienst zog es mich in die große Stadt Berlin. Dort gab es keine Gewaltorgien dummer Nazis mehr – der Westen war wie ein neues, gutes Land für mich. Den Osten mied ich so gut es ging, von ihm hatte ich genug. Jetzt hieß es nach den Sternen greifen und mit un- und unterbezahlten Praktika auf die Filmhochschule vorbereiten. Ein Regisseur wie Woody Allan wollte ich sein. Der Junge aus der DDR, der seine Geschichte erzählte und Tränen vor Lachen und Rührung in die Augen der Zuschauer trieb. Um sich dann schließlich in den Armen voller Liebe von jenen wiegen zu lassen, die ihn bis dato so verachteten. Ein herrlicher Traum.
Nunja. Der Traum von der Filmhochschule platze letztlich und riss ein tiefes Loch in mich hinein. Die Vorsehung und ich hatten offenbar verschiedene Ansichten. Nur selten ging ich noch hinaus. Im Sommer zwitscherten vor meinem Fenster die Vögel und im Winter riss mich morgens die Schneeschaufel aus dem Schlaf. Meine winzige Wohnung war ganz unten, so wie ich. Mit kleineren Jobs im IT-Bereich hielt ich mich über Wasser. IT hatte ich mir selbst beigebracht und ich brauchte kein Praktikum mehr dafür. Ich war 24 Stunden täglich allein und froh mit mir. Nur manchmal sehnte ich mich so sehr nach einem Wort oder einer Hand, einem Lächeln das mir galt. Die Boten des Friedens und der Zuversicht sahen mich hier unten eindeutig nicht mehr.
Schließlich wandte sich sogar mein Körper von mir ab. In unregelmäßigen Abständen versetzte er mich in Angst und Schrecken, mein sicheres Ende sah ich so oft so deutlich vor mir. Als ich schließlich im Gras vor der Klinik lag, sah ich einen Käfer. Er fiel immer wieder vom Halm, den er danach wieder hinaufkletterte. Zu meinem Erstaunen war ich mit meinem Ende noch nicht einverstanden. Ich brauchte ein Zentrum. Etwas, was mir mehr wert war als ich selbst.
Das Mädchen, das ich dann nach nicht wenigen missglückten Anläufen kennenlernte, war wie aus einer anderen Welt. Sie war gebildet und humorvoll und gleichzeitig wahnsinnig naiv und sexy. Einfach stark. Diese Frau wollte ich und keine andere. Humorvoll, gebildet und naiv wollte von nun an auch ich sein. Das neue Mindset wirkte Wunder und ich legte die Depression tatsächlich ab wie eine schwere Jacke. Wow – wie leicht ich plötzlich war. Arme und Beine, alles dran, alles funktionierte noch. Sogar mit einer verpassten Straßenbahn nahm ich es auf und bestieg sie keuchend unter dem Applaus der Insassen einfach bei der nächsten Haltestelle. Ich grinste und wusste: Ich bin wieder da.
Seit bald 20 Jahren lebe ich mit meiner Frau und unseren Kindern am südlichen Stadtrand von Berlin. Und meine Musik? Die hole ich jetzt mal raus bevor es mich nicht mehr gibt.
